Am Reformationstag erinnert die Evangelische Kirche an die Freiheit des Glaubens, die Martin Luther mit dem Anschlag seiner 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche für „jeden Christenmenschen“ einforderte. In dieser Tradition sah sich auch Albert Schweitzer (1875–1965): Theologe, Musiker, Arzt – und einer der großen humanistischen Denker des 20. Jahrhunderts.
Welche Impulse Schweitzer dem Protestantismus mit seiner dem Menschen zugewandten Ethik gegeben hat, darüber sprach der Wormser Theologe und Schweitzer-Forscher Prof. Dr. Werner Zager im Reformationsgottesdienst in der Oppenheimer Katharinenkirche. Seine Predigt stand unter dem Titel „Protestantische Freiheit im Sinne Albert Schweitzers“.
Kritikfähigkeit als Ausdruck wahrer Freiheit
Schweitzer habe, so Zager, vier Grundgedanken formuliert, die bis heute Gültigkeit besitzen.
Erstens: Wahre protestantische Freiheit schließt die Fähigkeit zur Selbstkritik ein – sie sei „der erste Schritt zu einem wahrhaftigen Christentum“. Zweitens: Auch Glaubensvorstellungen unterliegen dem Wandel der Zeit. „Zur Wahrhaftigkeit des Glaubens gehört es, sich neuen Erkenntnissen nicht zu verschließen“, betonte Zager. Ein solches weltoffenes und aufgeklärtes Christentum, so der Wormser Theologe in seiner Predigt, „hatte bis in die 1960erJahre bei uns in Deutschland einen schweren Stand. Wie wichtig waren daher seinerzeit die ermutigenden Worte Albert Schweitzers“.
Toleranz und Dialog – Albert Schweitzers bleibende Mahnung
Drittens erinnerte Zager an Schweitzers Überzeugung, dass Christinnen und Christen aktiv das Gespräch mit Menschen suchen sollten, die dem Glauben fernstehen. In einer Gesellschaft, die von Individualität und Technik geprägt sei, bleibe diese Offenheit „eine schlichte Notwendigkeit“. Viertens habe Schweitzer unmissverständlich für Toleranz gegenüber Andersdenkenden plädiert. Zager formulierte es so: „In der Zukunft unseres Christentums muss es möglich sein, dass weltoffen und freiheitlich Glaubende und solche, die sich in einem dogmatisch verfassten Glauben zu Hause fühlen, zusammenleben – ohne einander zu befehden.“
„Wir haben etwas für die Gesellschaft beizutragen“
Auch Dekan Pfarrer Oliver Zobel griff in seiner Begrüßung den Gedanken der verantwortlichen Haltung auf. Damit weckte er bei den Gottesdienstbesucherinnen und -besuchern besondere Aufmerksamkeit. „Wir dürfen“, forderte Zobel, „nicht davon ablassen zu sagen, dass wir etwas für die Gesellschaft beizutragen haben.“ Gleichzeitig freute sich der Dekan, Dr. Wiltrud Coerdt als verdiente Ehrenamtliche der Oppenheimer Kirchengemeinde mit der EKHN-Ehrenurkunde auszeichnen zu dürfen. Die Kirchenvorsteherin Coerdt habe mit ihrem großen ehrenamtlichen Einsatz, u.a. als Vorsitzende der Verwaltungskommission des Altenzentrums Oppenheim „Stiftung Zivilhospital“ große Verdienste nicht nur um die Kirche, sondern auch um die Allgemeinheit erworben.
Musik, die Glauben und Geist verbindet
Der Gottesdienst, an dessen Liturgie auch die stellvertretende Dekanin Vanessa Bührmann, der Oppenheimer Pfarrer Eric Bohn, der DSV-Vorsitzende Hans-Peter Rosenkranz und die Oppenheimer Kirchenvorsteherin Dr. Caroline Flick mitwirkten, bot viele inspirierende Gedanken, die durch das beeindruckende musikalische Rahmenprogramm noch verstärkt wurden. So brachten die Kantorei St. Katharinen u.a. den Choral „Nun danket alle Gott“ und das Bläserensemble St. Katharinen mit Gästen aus den Posaunenchören des Dekanats und der Propstei (Leitung: Propsteikantor Ralf Bibiella) u.a. ein Prélude von Alxandre Guilmant zu Gehör. Besonders stimmungsvoll war zum Abschluss des Gottesdienstes das Intermezzo aus der 6. Orgelsymphonie von Charles-Marie Widor, gespielt von der Organistin und Kirchenmusikerin Dr. Katrin Bibiella auf der registerreichen Woehl-Orgel.